Queere Leute, Küssen und Verantwortlichkeit

Von Shannon Perez-Darby
 
Misstrauen ist in mich eingeschrieben wie Bewegungsabläufe in einem Muskelgedächtnis. Mein erster Instinkt ist, mich zu entziehen, dich wegzustoßen. Ich will dir misstrauen, ich will, dass du ein bisschen weiter drängst, weil ich das so gewohnt bin, weil – “der Teufel, den du kennst, ist besser, als der Teufel, den du nicht kennst…” oder wie auch immer das heißt. Ich möchte lernen, wie ich es anders machen kann. Ich möchte meinem Körper andere Möglichkeiten beibringen. Für mich sind all diese Erfahrungen – Sex, Übergriffe, Macht, Grenzüberschreitungen, Panikattacken und Angstzustände – in meinen Körper eingeschrieben. Mein Körper reagiert vor dem Hintergrund seiner Erinnerungen, so wie er gelernt hat zu sein.
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Wie kann ich es also anders machen? Ich arbeite in einer Organisation, die sich mit häuslicher Gewalt auseinandersetzt, und mein Job ist es hauptsächlich, über Beziehungen zu reden. Mein Job ist heilend und triggernd◀ zugleich. Wenn ich an Grenzüberschreitungen denke, an Konsens, an die Momente, in denen ich gefragt wurde, was ich will, wie ich berührt werden möchte und wie nicht, ist meine Antwort in den meisten Fällen Schweigen.
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Du kannst nach Zustimmung fragen und bereit sein ein “ja” oder “nein” zu hören, du kannst beteiligt und aufmerksam sein, aber wenn ich zu verletzt bin, um mit dir da zu sein, in meinem Körper zu sein, mit meinen Reaktionen und Gefühlen, was bleibt mir dann?
Wenn ich über Verantwortlichkeit nachdenke, denke ich darüber nach, wie ich gelernt habe, mitzumachen, um Dinge unkompliziert zu halten und keinen “Aufstand” zu machen. Es gibt so viele Situationen, in denen es einfacher ist, nichts zu sagen, mich nicht für mich einzusetzen oder von dir abgrenzen zu müssen. Ich kann mich in der Verschwommenheit verstecken. Es fühlt sich weniger beängstigend an, nichts zu sagen und die Scherben in meinem Inneren aufzusammeln, als nein zu sagen und herausfinden zu müssen, wo ich anfange und du aufhörst. Ich verliere mich in den chaotischen Orten zwischen uns und das ist keine Liebe und das ist keine Verantwortlichkeit. Für mich bedeutet Verantwortlichkeit, mein ganzes Selbst zeigen zu können. Es bedeutet, im Hier und Jetzt anwesend und mutig genug zu sein, um tatsächlich irgendwo mit irgendeiner Person zu sein, anstatt mich in meinen eigenen Unsicherheiten, meiner Angst und meinem verinnerlichten Scheiß zu verstecken. Ich möchte mehr schaffen, als mich zu verstecken. Ich weiß, ich kann mehr schaffen, als mich so zu verhalten.
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Als eine Person, die meistens Sex mit anderen weiblich sozialisierten Menschen hat, ist Kommunikation über Konsens in meinem Leben und meinen Gemeinschaften anders, als es mir beim Aufwachsen beigebracht wurde. Homo zu sein hat für mich zu einer Veränderung geführt, wie ich meine Rolle beim Sex verstehe. Als ich jünger war, hatte ich beim Sex weniger eine aktive Rolle und war eher ein_e Schiedsrichter_in. Ich sagte niemals „berühr mich hier“ oder „ich mag es so und so“, stattdessen ließ ich jeden Jungen, den ich küsste, machen was auch immer er für sexy hielt, und meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass es nie zu weit über die (meine) Grenze ging. Ich war ein_e Torhüter_in und bewachte ständig, was sich wie der verletzlichste Teil von mir anfühlte. An dem Punkt, an dem ich so weit war, meine Stimme zu gebrauchen, waren wir für gewöhnlich bereits einige Schritte weiter gegangen als ich eigentlich wollte. Üblicherweise wartete ich bis es kippte, bis das, worauf es sexuell hinauslaufen würde, mir noch viel mehr Angst machte, als “Stopp” zu sagen.
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Wenn ich über diese Interaktionen nachdenke, bin ich voll von diesen widersprüchlichen Dingen. Ich würde einige dieser Erfahrungen als gewaltvoll bezeichnen und ich tue mich die ganze Zeit mit der Sprache schwer. Das sind die Momente, in denen sich Verantwortlichkeit verwirrend anfühlt. Ich glaube, die Typen, mit denen ich sexuell war, haben ihr Bestes gegeben. Ich glaube, dass sie Sex haben wollten, der für uns beide toll ist und dass sie das Beste für mich wollten. Für mich fühlt es sich nicht nach einer Lösung an, zu sagen, dass sie alle scheiße oder „böse Täter“ waren, die ich dann dämonisiere. Ich glaube, dass die Männer, mit denen ich Sex hatte, einige ziemlich beschissene Fähigkeiten und ätzende Erwartungen hatten und nicht wussten, wie sie es besser machen könnten. Was nicht bedeutet, dass sie nicht die Verantwortung für ihre Handlungen tragen. Aber sie sollten auch nicht dämonisiert werden. Wenn wir einige Menschen als böse darstellen, entmenschlicht das alle.
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Ich weiß nicht, wieviel Sinn es ergibt, Energie in diesen Gedanken zu stecken, weil ich mich dann wieder auf sie, auf ihre Erfahrungen konzentriere und nicht auf meine. Aber ich möchte meine Gemeinschaften dazu bringen, sich mit Konzepten und Gedanken zu Communitiy Accountability◀/Gemeinschaftlicher Verantwortlichkeit zu beschäftigen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir all die Fähigkeiten dazu haben, um hier und jetzt tragfähige Modelle gemeinschaftlicher Verantwortlichkeit zu verwirklichen. Aber ich denke, wir können innerhalb unserer eigenen radikalen Gemeinschaften mehr über sexualisierte Übergriffe sprechen – und darüber, wie wir die Werte von Gemeinschaft, sozialer Gerechtigkeit und Herrschaftskritik in unsere Gespräche über Konsens und Verantwortlichkeit bei unseren sexuellen Interaktionen einfließen lassen können.
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Zu sagen, dass ich die Menschen, die sexualisiert gewalttätig waren, nicht dämonisieren möchte, ist leichter geworden, weil diese Situationen zum größten Teil weit weg sind. Sie sind in der Vergangenheit und keiner von den Typen ist jetzt noch in meinem Leben. Wir sind damals nach diesem Hetero-Drehbuch verfahren, in dem Typen* die Fahrer sind, die bei einem Mädchen* so weit gehen, wie sie können und in dem es die Aufgabe des Mädchens* ist, zu bremsen: sich immer vor Typen* zu schützen, die versuchen, soviel sie können sexuell von ihr bzw. generell von Mädchen* zu bekommen, sofern wir sie nicht stoppen. Dieses Drehbuch ist ein festgelegter Rahmen für alle. Es ist ein Rahmen für Männlichkeit*, denn da gibt es keinen Raum für eine weite Spannbreite an Gefühlen, keinen Raum dafür, keinen Sex zu wollen oder irgendwas anderes als sexversessen zu sein, nicht ständig nach Sex zu suchen und Lust drauf zu haben. Und es ist auch ein Rahmen für Frauen*, weil alles, was passiert, unsere Schuld ist. Entweder wir sagen nichts, und Schweigen ist Zustimmung oder wir riskieren, was zu sagen, und dann sind wir anstrengend oder “prüde”◀.
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Ich möchte keinen falschen Gegensatz aufstellen, dass heterosexuelle Männer* von Natur aus übergriffig und queere Menschen radikal seien und letztere deshalb nur gleichberechtigte (sexuelle) Beziehungen haben, denn das ist nicht wahr; und diese Vorstellung steht dem Gestalten von Community Accountability-Konzepten im Weg. Homos verteidigen die beschissenen Dinge, die wir einander antun, und es ist beängstigend darüber zu sprechen, denn was wäre, wenn das die ganze Kackscheiße bestätigen würde, die die homofeindliche Gesellschaft über uns erzählt? Was, wenn wir keine gleichberechtigten Beziehungen führen können? Was, wenn wir Pädophile sind? Was, wenn wir wirklich keine gesunden Beziehungen führen können? Nicht darüber zu sprechen schützt uns nicht, es hält uns isoliert und sorgt dafür, dass wir die gleichen beschissenen gewaltvollen Dynamiken weiterführen, die wir gelernt haben. Das bedeutet: Wenn Gewalt und sexualisierte Übergriffe in unseren queeren Gemeinschaften passieren und wir nicht drüber reden, dann verinnerlichen wir unsere Unterdrückung und bleiben versteckt.
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Ich möchte mehr Vorbilder für die Beziehungen und Arten von Sex, die ich in meinem Leben haben möchte. Manchmal tun queere Menschen in meinem Leben so, als seien wir radikaler als Nötigung und Übergriffe, als ob uns das alles nicht betrifft und als ob es nicht in unser Sexleben und unsere Beziehungen einsickern würde. Doch so zu tun, als ob ich mehr “checken” würde als du, als ob ich radikaler und emanzipierter wäre, verfestigt genau das, was ich versuche zu verlernen. Es gibt uns das Gefühl, wir wären nicht gut genug. Ich bin es leid, dass wir uns alle fühlen, als wären wir nicht ok. Wie würde es aussehen, wenn wir glaubten, wir könnten es anders machen, wir könnten es auf Millionen von Weisen anders machen? Wie würde sich unsere Sexualität anfühlen, wenn wir glaubten, dass wir ok sind, wenn es uns erlaubt wäre, ganz wir selbst zu sein, wenn wir uns selbst als Ganzes begreifen könnten? Wie würde es sein, wenn es möglich wäre, unseren Ängsten zu begegnen und uns miteinander auf einen Prozess von Verantwortlichkeit einzulassen? Was, wenn wir in einer ausgeglichenen, standhaften, ganzheitlichen und anmutigen Weise erscheinen könnten? Wie würde sich Verantwortlichkeit gestalten? Was bräuchten wir, um uns das überhaupt vorstellen zu können?
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Das Schrecklichste, was ich mir vorstellen kann, ist, einer Person, mit der ich Sex habe, zu sagen, dass ich keinen Sex haben will. Wie gestaltet sich mein Verantwortlichkeitsprozess dabei? Welche Formen nimmt Zustimmung an, wenn ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich nein sagen könnte? Ich denke nicht, dass das die liebevollste Art ist, mich zu zeigen. Wenn sich unser Drehbuch ändert und ich die Person bin, die dich berührt, wenn ich Sachen vorschlage und nicht mehr die Bremse bin, sondern aktiv handelnd, wie gestaltet sich dann Einvernehmlichkeit? Ganz plötzlich ändert sich meine Verantwortung. Ich hatte mir angewöhnt, mich der Dynamik anzupassen, und nun habe ich eine gleichberechtigtere Rolle, indem ich frage, wie du berührt werden möchtest, wie du nicht berührt werden möchtest, was zu schwach ist und was nicht fest genug ist – und das nicht nur beim ersten Mal, sondern jedes Mal aufs Neue; es ist ein ständiger Auseinandersetzungsprozess. Wenn ich über diese Machtverschiebung nachdenke, vergegenwärtige ich mir den Sex, den ich hatte, als ich jünger war. Ich kann die Komplexität und Vielschichtigkeit der Arten und Weisen fühlen, auf die wir lernen miteinander umzugehen. Du kannst die besten Absichten einer Person gegenüber haben und das bedeutet nicht, dass du es nicht verkackst.
Das ist das Erschreckendste: Manchmal, wenn es dazu kommt, dass die Grenzen von Leuten überschritten werden, spielt es keine Rolle, an welchem Fleck du dein Herz hast. Es ist nämlich so, dass wir versuchen können unser Bestes zu geben und dennoch die Grenzen anderer überschreiten.
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Das heißt natürlich nicht, dass die Absicht nicht wichtig ist. Absicht macht manchmal bei meinem Heilungsprozess viel aus, aber meistens hat meine Erfahrung gezeigt, dass ich nicht wirklich wissen kann, was in anderen Leuten vorgeht. Wir sind sehr von der Vorstellung eingenommen, dass Menschen, die sexualisiert übergriffig waren, böse Übeltäter seien und Menschen, die sexualisierte Übergriffe erfahren haben, perfekte Engel. Eine solche Erzählweise verletzt uns alle, denn es geht nicht um gut und böse, sondern um Macht. Oft bekommen wir Macht, ohne es zu wollen, und Macht abzugeben kann sich alles andere als intuitiv anfühlen, weil Macht abgeben etwas ist, was uns nicht beigebracht wurde und wofür wir fast keine Vorbilder haben. Meistens nehmen die Menschen, die Macht und Privilegien haben, das nicht unbedingt so wahr. Wenn also Menschen unter Druck zu setzen generell mit Macht zu tun hat – und die meisten Menschen, die Macht haben, nicht merken, dass sie welche haben – was bedeutet das dann, wenn wir versuchen, Sex zu besprechen; wenn wir über Konsens sprechen, darüber, wie wir ja und wie wir nein sagen? Woher wissen wir, wann wir Macht haben, wie finden wir heraus, wie wir Machtdynamiken verändern können und wie können wir damit umgehen, wenn wir unsere Macht (absichtlich oder nicht) auf beschissene Weise benutzen? Wie nehmen wir es wahr und wie reagieren wir, wenn uns eine Person sagt, dass sie sich übergangen fühlt oder dass ihre Grenzen verletzt worden sind? Wie würdigen wir, was für eine großartige Sache es ist, dass eine Person es tatsächlich schafft, das überhaupt zu sagen?
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Verantwortung zu übernehmen ist ein Prozess und Teil dieses Prozesses ist Mist bauen. Das ist so erschreckend und so real, denn wenn so viel auf dem Spiel steht, fühlt sich Mist bauen eigentlich nicht wie eine Option an. Aber was, wenn wir Verantwortlichkeit stattdessen als einen Prozess verstehen, auf den wir uns einlassen, wenn wir Scheiße bauen? Dieses Scheißebauen wird passieren und was wäre, wenn wir, anstatt es zu leugnen und zu verstecken, anstatt zu sagen, dass wir es nicht besser wussten (egal, ob das stimmt oder nicht), stattdessen um Entschuldigung bitten und herausfinden was mit uns los war, wo in unserem Inneren unser Verhalten begründet liegt, um dann herauszufinden, wie wir damit umgehen werden. Denn Scheitern gehört dazu, aber das heißt nicht, dass wir immer wieder den gleichen Mist verzapfen werden. Wir setzen uns damit auseinander, um nicht weiterhin auf genau die gleiche Weise Scheiße zu bauen. Ich möchte auf völlig neue Arten Scheiße bauen.
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Dafür müssen wir erstmal davon ausgehen, dass Menschen ihr Bestes versuchen, und Menschen müssen auch wirklich ihr Bestes versuchen. Weil in der Realität Menschen einander die ganze Zeit wirklich schlimme Dinge antun und ich offen gesagt sonst nicht weiß, wie ich das zusammenbringen kann. Als ein*e Überlebende*r von Übergriffen, als Beistand bei häuslicher Gewalt, als ein*e Freund*in und als Person innerhalb einer Gemeinschaft mit anderen Menschen, habe ich einige wirklich beschissene, schreckliche Dinge gesehen und gehört, die Menschen einander angetan haben. Leute rufen uns die ganze Zeit mit wirklich heftigen Geschichten an, und diese Geschichten sind wahr und real und jede Person entwickelt ein eigenes Verständnis von ihren Erfahrungen und findet Heilung auf Wegen, die für sie funktionieren. Ich habe das Gefühl, ich kann es nicht oft genug sagen: Heilung ist ein Prozess.
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Verantwortung zu übernehmen heißt nicht, sich mit aller Schuld zu überhäufen und sich ewig darin zu wälzen. Wir wissen alle, wie das abläuft: Menschen bauen Mist und wenn sie darauf angesprochen werden, ist ihre Reaktion: „Es ist alles meine Schuld, wie konnte ich das tun, ich bin ein schrecklicher Mensch, wie kannst du mich überhaupt mögen?“ Und dann tröstet letztendlich die Person, die es in diesem Fall nicht vermasselt hat, die Person, die versucht Verantwortung zu übernehmen. Auf diese Weise können wir es so aussehen lassen, als ob wir verantwortlich handeln würden, ohne uns tatsächlich zu entschuldigen und uns mit unseren Handlungen auseinandersetzen zu müssen. Manchmal sieht das fast wie Verantwortlichkeit aus, aber in Wirklichkeit ist es eine Maske, die uns davon abhält, uns mit uns selbst auseinander zu setzen und uns darüber klar zu werden, was mit uns los ist. Ich ziehe es vor, zu glauben, dass die Leute in meinem Leben das Beste tun, was sie können. Das heißt nicht, dass sie mich schlecht behandeln oder beschissene Sachen machen dürfen. Diese Kompliziertheit auszuhalten, ist oft sehr schmerzhaft für mich gewesen: Vom unverdienten Vertrauen in Menschen, die wieder und wieder meine Grenzen überschreiten und mich nicht respektieren, springe ich immer wieder ins Märtyrer*innentum, indem ich mich, wann immer Menschen Scheiße bauen, für sie ins Feuer werfe und sage: “sie tun das beste, was sie können.” Ich glaube, dass es etwas dazwischen geben kann, dass es möglich ist, ehrlich zu mir selbst zu sein und gegenwärtig für die stetige Auseinandersetzung, die es braucht, um gut zu anderen Leuten in meinem Leben zu sein und Respekt und Freundlichkeit einzufordern.